
Breite Wirtschaftssanktionen, von denen die meisten von der US-Regierung verhängt werden, töten jedes Jahr Hunderttausende unschuldige Menschen – überproportional viele Kinder. Vor Kurzem veröffentlichte die Fachzeitschrift «The Lancet Global Health» eine Studie, welche diese Zahl auf etwa 564.000 Todesfälle jährlich über einen Zeitraum von zehn Jahren schätzt. Dies ist vergleichbar mit der jährlichen Gesamtzahl der Todesopfer durch bewaffnete Konflikte weltweit.
Von Mark Weisbrot
Sanktionen werden zunehmend zur bevorzugten Waffe der Vereinigten Staaten und einiger Verbündeter – nicht, weil sie weniger zerstörerisch wären als militärische Aktionen, sondern vermutlich, weil ihre Folgen weniger sichtbar sind. Sie können Ernährungssysteme und Krankenhäuser zerstören und Menschen still und leise töten – ohne die grausamen Bilder von Körperteilen in Häuserruinen oder von aus der Luft bombardierten Cafés. Sie bieten Entscheidungsträgern ein Mittel, das die tödliche Wirkung eines Krieges entfalten kann – selbst gegen Zivilisten – ohne den politischen Preis zu zahlen.
Unsichtbares Töten
Die Schätzung der Studie in der Fachzeitschrift «The Lancet Global Health» von 564.000 jährlichen Todesfällen durch Sanktionen beruht auf einer Analyse von Daten aus 152 Ländern über einen Zeitraum von zehn Jahren. Die Studie wurde von mir und den Ökonomen Francisco Rodríguez und Silvio Rendón durchgeführt.
Es ist ein erschreckendes Ergebnis, aber für Ökonomen, Statistiker und andere Forscher, die die Auswirkungen wirtschaftlicher Sanktionen untersucht haben, nicht überraschend. Dabei handelt es sich um Massnahmen, die auf die gesamte Wirtschaft abzielen – oder auf einen Teil davon, von dem der Grossteil der Wirtschaft abhängt, etwa den Finanzsektor oder ein dominierendes Exportgut, wie es in öl-exportierenden Ländern der Fall ist.
Sanktionen können den Zugang zu lebenswichtigen Importen wie Medikamenten und Lebensmitteln blockieren – ebenso wie zu der nötigen Infrastruktur und den Ersatzteilen, um Trinkwasserversorgungssysteme in Betrieb zu halten, einschliesslich der Stromversorgung.
Die Schädigung der Wirtschaft kann mitunter sogar tödlicher sein als allein die Blockade lebenswichtiger Importe. Venezuela ist ein Beispiel für ein Land, das unter all diesen Auswirkungen gelitten hat – und der Fall ist weitaus besser dokumentiert als bei den meisten der inzwischen 25 % aller Länder, die unter Sanktionen stehen (zum Vergleich: in den 1960er Jahren waren es nur 8 %). In Venezuela kostete bereits das erste Jahr der Sanktionen unter der ersten Trump-Regierung Zehntausende Menschenleben. Danach verschlimmerte sich die Lage weiter, als die USA das Land vom internationalen Finanzsystem und vom Ölexport abschnitten, Milliarden Dollar an Vermögenswerten einfrieren liessen und «Sekundärsanktionen» gegen Länder verhängten, die versuchten, Geschäfte mit Venezuela zu machen.
Venezuela erlebte von 2012 bis 2020 die schlimmste Depression der Weltgeschichte – ohne Krieg. Die Wirtschaft schrumpfte in diesem Zeitraum um 71 % – mehr als das Dreifache der Schwere der Grossen Depression in den USA in den 1930er-Jahren. Der Grossteil dieser Entwicklung war, wie festgestellt wurde, auf die Sanktionen zurückzuführen.
Sanktionsopfer: Mehrheitlich Kinder
Unsere Studie ergab, dass in allen betroffenen Ländern die Mehrheit der Menschen, die infolge der Sanktionen starben, Kinder unter fünf Jahren waren. Diese Gräueltat deckt sich mit früheren Forschungsergebnissen. Medizinische Studien haben gezeigt, dass Kinder in dieser Altersgruppe bei Unterernährung wesentlich anfälliger für den Tod durch Kinderkrankheiten wie Durchfall, Lungenentzündung und Masern werden.
Diese Ergebnisse stimmen auch mit statistischen Untersuchungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sowie anderer Statistiker und Ökonomen überein, die feststellen, dass Rezessionen in Entwicklungsländern die Sterblichkeitsrate deutlich erhöhen. Natürlich kann die durch Sanktionen verursachte Zerstörung, wie oben beschrieben, um ein Vielfaches schlimmer sein als eine durchschnittliche Rezession.
Im Jahr 2021 schrieb der Abgeordnete Jim McGovern (Demokrat, Massachusetts) einen Brief an den damaligen US-Präsidenten Biden, in dem er ihn aufforderte, «alle von der Trump-Regierung gegen Venezuela verhängten Sekundär- und Sektorensanktionen aufzuheben». Die Wirkung dieser Sanktionen, so erklärte er, «ist unterschiedslos und absichtlich so gestaltet. … Wirtschaftlicher Schmerz ist das Mittel, mit dem die Sanktionen wirken sollen. Aber es sind nicht die venezolanischen Regierungsvertreter, die die Kosten tragen. Es ist das venezolanische Volk.»
Deshalb sind US-Sanktionen gemäss den von den Vereinigten Staaten unterzeichneten Verträgen illegal, darunter die Charta der Organisation Amerikanischer Staaten. Sie sind ausserdem während eines Krieges nach den Genfer und Haager Konventionen verboten, da sie eine kollektive Bestrafung von Zivilisten darstellen. UN-Experten haben – und zwar sehr überzeugend – argumentiert, dass etwas, das ein Kriegsverbrechen ist, wenn Menschen sich gegenseitig bombardieren und beschiessen, auch dann ein Verbrechen sein sollte, wenn es keinen solchen Krieg gibt.
Illegal nach US-Recht
Diese Sanktionen verstossen auch gegen US-Recht. Um Sanktionen zu verhängen, muss der Präsident nach US-Gesetz erklären, dass das sanktionierte Land einen «nationalen Notstand» für die Vereinigten Staaten verursacht und eine «ungewöhnliche und ausserordentliche Bedrohung» für die nationale Sicherheit der USA darstellt. Das war jedoch fast nie der Fall.
Angesichts der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in den Vereinigten Staaten und der Missachtung der Menschenrechte in der amerikanischen Aussenpolitik – und zunehmend auch im Inland – fällt es leicht, pessimistisch zu sein, was die Aussichten auf ein Ende dieser wirtschaftlichen Gewalt betrifft. Aber sie wird enden.
Wir haben schon Siege gegen weit mächtigere Gegner und tief verankerte Politiken erlebt, darunter Kriege – zuletzt gegen die US-Beteiligung am Krieg im Jemen. Organisierter Widerstand brachte den Kongress 2019 dazu, eine entsprechende Resolution zu den Kriegsvollmachten zu verabschieden. Das erzwang zumindest ein Ende eines Teils der US-Militärhilfe und der Blockade, die Millionen Menschen in eine Hungersnot auf Notstandsniveau getrieben hatte, und rettete damit Tausende Leben.
Das formale Folterprogramm der CIA nach den Anschlägen vom 11. September, zu dem auch Waterboarding gehörte, wurde 2009 nach öffentlicher Aufdeckung und erheblichem Widerstand per Präsidialerlass beendet.
Der grösste Vorteil von Sanktionen für die Entscheidungsträger, die sie einsetzen, ist die Unsichtbarkeit ihrer Opferbilanz. Aber genau das ist auch ihre Achillesferse. Wenn die wirtschaftliche Gewalt umfassender Sanktionen weithin bekannt wird, werden sie unhaltbar und politisch nicht mehr durchsetzbar sein.
Mark Weisbrot ist Co-Direktor des Center for Economic and Policy Research und Mitverfasser der neuen Studie über die Folgen von Sanktionen.