«Unser Ziel muss Deeskalation sein»

Die Schweizer Friedensbewegung (SFB) setzt sich seit ihrer Gründung für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde ein. Angesichts des Kriegs in der Ukraine führte die sozialistische Zeitung «vorwärts» ein Interview mit Tarek Idri von der SFB. Er erklärt, wie die SFB zum aktuellen Krieg steht, und weist auf die problematischen Seiten der Waffenlieferungen und Sanktionen hin.


Wie schätzt ihr den Krieg in der Ukraine ein?

Wir von der SFB haben den Ukraine-Krieg von Anfang an als einen Bruch des Völkerrechts betrachtet und entsprechend kritisiert. Die Toten und Verletzten, das Leid und die grossflächige Zerstörung, die dieser Angriffskrieg mit sich bringt, hat in erster Linie die russische Regierung zu verantworten. Es ist ein schwerer Schlag für alle, die sich eine friedliche, gerechte Welt wünschen, es ist auch ein Schlag gegen das Völkerrecht. Angriffskriege sind gemäss Uno-Charta ganz klar verboten. Was auch gesagt werden muss: Russland ist nicht das erste Land, dass in den letzten Jahren das Völkerrecht gebrochen hat. Eine von Saudi-Arabien geleitete Koalition führt seit 2016 einen Angriffskrieg gegen Jemen, die Nato zerstörte 2011 Libyen, Aserbaidschan führte erst vor Kurzem Krieg gegen Armenien. Alle diese Länder und Kriegsbündnisse haben Völkerrecht gebrochen. Russland ist aber das einzige Land, für das der Völkerrechtsbruch derartige Konsequenzen hatte. In keinem anderen Fall wurde der Aggressor mit derartigen Sanktionen und Wirtschaftsblockaden belegt. Niemand hätte gewagt, gegen ein Nato-Land einen «totalen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg» zu führen, wie es die französische Regierung im Falle Russlands formulierte.

Unser Ziel muss die Deeskalation des Konflikts sein. Dazu braucht es einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Kein weiteres Aufheizen der Stimmung durch unilaterale Sanktionen und Waffenlieferungen. Für Deeskalation muss man verstehen, wie es zum Konflikt gekommen ist, und man muss beiden Seiten zuhören. Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstbestimmung, auf territoriale Integrität, auf die Unversehrtheit ihrer BürgerInnen. Für Russland ist es ein erklärtes Ziel, zu verhindern, dass die Ukraine der Nato beitritt.

Weshalb will Russland den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern?

Bei der Nato handelt es sich um ein Kriegsbündnis, dass sich in erster Linie gegen Russland richtet. Sie entstand im Kalten Krieg als militärischer Zusammenschluss gegen die Sowjetunion. Russland will Abstand vor den Waffen der Nato, und das ist einleuchtend, wenn man die Situation kennt. Wir wissen, dass in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei bereits US-Atomwaffen bereitstehen. Rund um Russland stehen Militärbasen und Nuklearwaffenplätze der USA. Je grösser der Abstand zu diesen Standorten ist, desto mehr Zeit hat Russland, um zu reagieren. Wenn die Ukraine ein Teil der Nato wird, würde sich der Abstand zu Russland massiv verkleinern. Die Flugzeit von Atomraketen gegen Russland würde sich auf vier bis fünf Minuten verkürzen.

Seit dem Untergang der Sowjetunion hat sich das Kriegsbündnis Nato immer weiter in den Osten Europas ausgedehnt – trotz gegenteiligen Abmachungen mit dem damaligen sowjetischen Regierung. 1999 wurden Polen, Ungarn und Tschechien zu Nato-Mitgliedern, 2004 die baltischen Länder sowie Rumänien und Bulgarien. Die Nato steht also in vielen Fällen bereits direkt an der Grenze zu Russland. Nun will die Nato auch noch Schweden und Finnland aufnehmen, was nicht die Sicherheit dieser Länder erhöht, sondern die Spannungen mit Russland weiter verschärft!

Wie kam es aus eurer Sicht zum Krieg in der Ukraine? War er absehbar?

Wir in der SFB wurden, wie viele andere, von den Ereignissen überrascht. In den Wochen vor dem Angriff am 24. Februar schwirrten Gerüchte in den Medien über russische Invasionspläne, gestützt auf angebliche Geheimdienstquellen; dem Ganzen standen wir eher skeptisch gegenüber. Aber es gab, im Nachhinein betrachtet, verschiedene Warnzeichen. Letztes Jahr, im März 2021, erliess der ukrainische Präsident Selenski ein Dekret, in welchem die Rückeroberung der Krim durch militärische Massnahmen angekündigt wurde. Es wurde auch explizit die Absicht wiederholt, sich der EU und der Nato als Vollmitglieder anzuschliessen. Am 19. Februar, kurz vor Kriegsbeginn, trat Selenski auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf und erklärte sogar den Willen, Atomwaffen in seinem Land stationieren zu lassen.

Die ukrainische Regierung begann im Herbst 2021, ihre Truppen im Süden und Südosten des Landes, im Donbass und vor der Krim, zu konzentrieren. Ab Mitte Februar in diesem Jahr kam es dann zu verstärkten Auseinandersetzungen an der Grenze zum Donbass, der Artilleriebeschuss auf die Donbass-Republiken nahm zu. Dies wurde von der OSZE-Mission im Donbass beobachtet. Die Donbass-Republiken begannen, die Zivilbevölkerung nach Russland zu evakuieren. Am 15. Februar nahm das russische Parlament eine Resolution an, mit der die beiden Volksrepubliken Donetsk und Lugansk offiziell anerkannt wurden. Die Regierung unter Putin folgte der Resolution und schloss ein Abkommen mit den Volksrepubliken ab. Dies bildete dann für Russland die rechtliche Grundlage, um ihnen militärisch «beizustehen» und den Krieg gegen die Ukraine zu starten. Das war aber nur das unmittelbare Vorspiel zum Krieg. Der Konflikt hat eine viel längere Geschichte.

Wie begann der Konflikt? Was sind die Hintergründe?

Ein Wendepunkt war das Jahr 2014. Der ukrainische Präsident Janukowitsch hatte im Herbst 2013 erklärt, dass seine Regierung dem Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zustimmen würde. Die Ablehnung des Abkommens wurde von Teilen der ukrainischen Bevölkerung als Absage an eine EU-Mitgliedschaft, und damit am angeblichen Wohlstand der EU, aufgefasst. Es entstand eine Protestbewegung, der sogenannte Euromaidan. Im Februar 2014 stürmten ultranationalistische Gruppen im Westen des Landes Einrichtungen der Polizei und des Sicherheitsdienstes. Janukowitsch liess sie zunächst gewähren. Er schloss eine Übereinkunft mit der Maidan-Opposition und versprach baldige Neuwahlen. Die rechtsradikalen Kräfte riefen jedoch zum bewaffneten Aufstand auf und stürmten die Präsidentenadministration. Janukowitsch floh über den Osten des Landes nach Russland. Die Parteien der Opposition, darunter die Neonazi-Partei Swoboda, bildeten daraufhin – verfassungswidrig – eine Übergangsregierung, die von den USA und der EU als legitim betrachtet wurde. Sie erklärten Janukowitsch für abgesetzt. Eine erste Amtshandlung bestand darin, das Sprachgesetz der Ukraine zu ändern. Und zwar wurde die ukrainische Sprache als alleinige Amtssprache festgelegt. Arbeitende im Dienstleistungsbereich durften nicht mehr Russisch (oder eine sonstige Minderheitssprache) sprechen. Dabei sprechen 30 Prozent der Bevölkerung in der Ukraine Russisch als Muttersprache! Unter der russischsprachigen Bevölkerung rief dies grosse Entrüstung aus. Im Süden und Südosten des Landes kam es zu Protesten und Demonstrationen, Zehntausende gingen auf die Strasse. Es wurde die Föderalisierung der Ukraine und mehr Autonomie gefordert. Die ukrainische Putschregierung setzte die Armee gegen die Protestierenden im Donbass ein. Es folgte ein Bürgerkrieg, der von 2014 bis zur aktuellen Militärintervention Russlands andauerte. Die russischsprachigen Aufständischen riefen die autonomen Volksrepubliken Donetsk und Lugansk aus. Die Ukraine setzte im Kampf gegen die SeparatistInnen nachweislich faschistische paramilitärische Einheiten und Schlägertrupps ein.

In Odessa kam es am 2. Mai 2014 zu Ausschreitungen von einem faschistischen Mob, der Jagd auf Linke und GewerkschafterInnen machte. Als sich diese sich im Gewerkschaftshaus versteckten, wurde das Gebäude von den Neonazis angezündet. Über 40 Menschen wurden bei diesem Massaker ermordet – durch das Feuer oder durch den Mob, der die Menschen, die aus dem brennenden Haus sprangen, zu Tode prügelte.

Auf der russischsprachigen Halbinsel Krim kam es im Mai 2014 zu einem Referendum, in dem sich die übergrosse Mehrheit dafür aussprach, sich der Russischen Föderation anzuschliessen. Im Hafen Sewastopol auf der Krim war bis anhin die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Das russische Militär griff ein und annektierte die Krim.

Nach der ukrainischen Offensive im Sommer 2014 unter dem neuen Präsidenten Poroschenko kam es im September 2014 und Februar 2015 schliesslich zum Abschluss von Waffenstillstandsvereinbarungen: die Minsker Verträge. In zweiten Minsker Vertrag wurde beschlossen, dass Teile des Donbass einen rechtlichen Sonderstatus innerhalb der Ukraine erhalten würden, hin zu einer lokalen Selbstverwaltung. Die Verträge wurden aber von beiden Seiten immer wieder gebrochen. Die Ukraine führte nach dem Abschluss von Minsk I eine «Antiterroroperation» gegen den Donbass durch und torpedierte damit den Waffenstillstand. Von den russischsprachigen SeparatistInnen wurde nach Abschluss des zweiten Vertrags die Waffenruhe nicht komplett eingehalten. Die Ukraine setzte auch die Gesetzesänderung, die für den Sonderstatus nötig wäre, nie um, weder die Regierung unter Poroschenko noch die aktuelle Regierung unter Selenski. Die Ukraine verhängte sogar eine Wirtschaftsblockade gegen die abtrünnigen Regionen, ebenfalls ein Bruch der Verträge. Der neue Präsident Selenksi nahm im Dezember 2019 am Treffen des Normandie-Formats teil, in dem – unter Ausschluss der SeparatistInnen – über den Konflikt verhandelt wurde, aber auch dies brachte keine Fortschritte.

Wie bewertet ihr das Verhalten der Schweiz in diesem Konflikt?

Die Schweizer Regierung hat sich in diesem Fall sehr schnell dem Block der EU und Nato angeschlossen. Sie trägt die völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen Russland mit und verletzt damit das Neutralitätsprinzip, mit dem sich die Schweiz gerne rühmt. Die Quittung ist, dass die Schweiz von Russland auf die Liste der «unfreundlichen Staaten» gesetzt wurde. Damit fällt sie als Kandidatin für die Vermittlerrolle weg; es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Schweiz nun irgendeine Rolle im Dialog zwischen Russland und der Ukraine spielen wird. Statt sich für eine friedlichere Welt einzusetzen, was für ein kleines Land wie die Schweiz lebensnotwendig ist, hat sie sich auf eine Konfliktseite geschlagen und heizt die Spannungen weiter an. Unsere Regierung muss unbedingt daran erinnert werden, dass ein dritter Weltkrieg ein Atomkrieg sein wird. Eine Regierung, die die Interessen der Bevölkerung im Sinn hat, würde alles daran setzen, um einen solchen Krieg zu verhindern. Sie würde auf sofortige Verhandlungen und auf Waffenstillstand setzen. Was wir von der Schweizerischen Friedensbewegung immer gesagt haben, ist, dass Frieden und Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland zu erreichen ist.

«Verhandlungen statt Sanktionen!» Was ist eure Einschätzung dazu? Was können Verhandlungen bringen?

Eine Lösung für den Konflikt in der Ukraine war vorhanden: die Minsker Abkommen. Es handelte sich um einen Vertrag zwischen der ukrainischen Regierung und den VertreterInnen der Donbass-Republiken mit Frankreich, Deutschland und Russland als Garantiemächte. Das zweite Abkommen vom Februar 2015 bildete sogar die Grundlage für eine Resolution der Vereinten Nationen. Es ist dadurch völkerrechtlich bindend und müsste umgesetzt werden. Für zukünftige Verhandlungen sollten deshalb die Minsker Abkommen die Grundlage bilden. Es ist wichtig, möglichst rasch wieder Verhandlungen aufzunehmen und den Konflikt friedlich zu schlichten. Wir sprechen uns ganz klar für ein Ende der Kämpfe und für einen sofortigen Waffenstillstand aus. Alles andere bringt nur noch mehr Leid und Hass auf beiden Seiten. Das Völkerrecht muss geachtet werden: Russland zieht sich zurück; und es werden Sicherheitsgarantien ausgehandelt, die von der Uno begleitet werden. Wir betonen auch, dass die Waffenlieferungen der westlichen Länder an die Ukraine gestoppt werden müssen. Mehr Waffen bedeuten ganz einfach mehr Eskalation. Die Nato hat mittlerweile auch begonnen, schweren Waffen zu liefern, die für die Offensive und nicht für die blosse Verteidigung eingesetzt werden können. Die Verlängerung des Kriegs und damit des Leids der ukrainischen Bevölkerung ist für die Nato-Länder eine Strategie, um die Russische Föderation möglichst in die Knie zu zwingen und zu ruinieren.

Ihr lehnt nicht nur Waffenlieferung an die Ukraine, sondern auch die Sanktionen gegen Russland ab. Weshalb?

Es wichtig, zu verstehen, dass die unilateralen Sanktionen, die von den USA, der EU und der Schweiz ergriffen wurden, gegen das Völkerrecht verstossen. Zwangsmassnahmen wie Sanktionen sind nur dann erlaubt, wenn sie vom Uno-Sicherheitsrat beschlossen werden. Es ist also nicht nur Russland, das momentan Völkerrecht bricht, sondern auch die Regierung der Schweiz, weil sie diese illegalen Zwangsmassnahmen mitträgt. Russland ist momentan das vom Westen am stärksten sanktionierte Land. Für die SFB ist klar, dass uns die Beteiligung an diesem Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg des Westens keinen Schritt näher zum Frieden bringt. Wir kennen doch die Folgen von solchen Sanktionen und Wirtschaftsblockaden: Die Menschen in Kuba, Venezuela, Jemen, Iran leiden seit Jahren durch diese. Getroffen werden durch Sanktionen stets und unverhältnismässig stärker die armen und ärmsten Menschen. Diese sind es, die durch die Folgen der Sanktionen ihre Arbeit verlieren, die hungern und an behandelbaren Krankheiten sterben. Wir müssen ausserdem bedenken, dass die Sanktionen gegen Russland auch Auswirkungen auf andere Länder haben. Im Westen wird die Inflation angeheizt, Lebensmittel- und Energiepreise steigen, was die Menschen mit tiefem und mittlerem Einkommen zu spüren bekommen. Und noch viel schlimmere Auswirkungen haben die Sanktionen gegen Russland in den Ländern des Südens. Dort besteht die Möglichkeit, dass es zu Hungerkrisen kommt. Eine im März veröffentliche Studie schätzt, dass die weltweiten Preiserhöhungen mehr als 40 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen werden. Die Schweizer Regierung trägt mit ihren Sanktionen zu dieser humanitären Katastrophe bei.

Was ist die Rolle der SFB in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg? Steht die Friedensbewegung vor neuen Herausforderungen?

Wir von der SFB haben wiederholt auf die Problematik der Sanktionen und Waffenlieferungen aufmerksam gemacht. Am Ostermarsch in Bern, eine jährliche Friedensdemonstration, sind wir gut sichtbar mit der Parole «Verhandeln statt Sanktionieren!» aufgetreten. Die NZZ, der Tages-Anzeiger und die WOZ machten einen Skandal daraus, weil wir eine andere Einschätzung des Krieges und eine abweichende Meinung zu den Sanktionen haben. Es kamen in den Artikeln GSoA-AktivistInnen zu Wort, die nicht nur Sanktionen begrüssten, sondern sogar Waffenlieferungen an die Ukraine forderten. Wir sind es gewohnt, dass die bürgerlichen Medien uns diffamieren und verleugnen. So war es seit der Gründung der SFB vor über 70 Jahren. Es ist aber ziemlich erschütternd zu sehen, wie leichtfertig Teile der GSoA, der grössten Friedensorganisation der Schweiz, ihre Prinzipien aufgegeben haben. Wir in der SFB werden uns weiter unbeirrt für den Frieden, das Völkerrecht und die Neutralität der Schweiz einsetzen. Für uns ist es wichtig, mit unseren Position weiterhin präsent zu bleiben, die Öffentlichkeit aufzuklären, was Sanktionen und Waffenlieferungen wirklich bedeuten und dass von der Nato eine grosse Gefahr für den Weltfrieden ausgeht. Wir arbeiten weiter daran, eine starke Bewegung aufzubauen mit allen Menschen, die konsequent für den Frieden kämpfen wollen.

Tarek Idri ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Friedensbewegung und Redaktor der SFB-Zeitung «Unsere Welt».