Die Ostsee – Meer des Krieges?

Die Hochrüstung in allen Staaten um die Ostsee wird intensiviert, die Militärmanöver der NATO an der Ostsee zwischen Deutschland, den skandinavischen und baltischen Staaten und Polen häufen sich. Schiffe, die für Russland fahren und russische Waren transportieren, werden immer öfter aufgehalten. Der Vertrag über die Wiedervereinigung Deutschlands, der sogenannte 2+4-Vertrag, wird laufend verletzt, indem auf ostdeutschem Gebiet immer mehr NATO-Militärtechnik stationiert wird. Es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass da Provokationen im Gange sind, verbunden mit der Hoffnung, dass eine allfällige Reaktion Russlands propagandistisch als Angriff auf einen NATO-Staat dargestellt werden könnte – nach einem aus NATO-Sicht bewährten Muster der Kriegsvorbereitung.

Von Ueli Schlegel

Die Verbindung über die Ostsee ist schon seit langer Zeit eine wichtige Handelsroute. Im Mittelalter und danach in der frühen Neuzeit waren erst Schiffe der Wikinger und dann der Hanse unterwegs. Im Dreissigjährigen Krieg 1618 bis 1648 versuchte die Grossmacht Schweden, nach Osten zu expandieren, in den Nordischen Kriegen zwischen 1554 und 1721 waren die Antipoden meistens Schweden auf der einen und Russland auf der anderen Seite, je mit wechselnden Staaten verbündet. St. Petersburg wurde 1703 von Zar Peter dem Grossen auf einem Sumpf nahe dem Meer am Ostende des finnischen Meerbusens gegründet, um Russland wieder Zugang zur Ostsee zu gewähren. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg tobten in der Ostsee heftige Kämpfe zwischen Kriegsschiffen und U-Booten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte im Kalten Krieg eine Phase ohne bedeutende militärische Konflikte ein. Das Gleichgewicht änderte sich wiederum, als zwischen 1988 und 1990 die Sowjetunion aufgelöst wurde und die drei baltischen Republiken Estland, Litauen und Lettland sich für unabhängig erklärten. Mit dem NATO-Beitritt Polens (1999) und der drei baltischen Staaten (2004) entgegen dem Versprechen der westlichen Mächte gegenüber dem sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow kippte es vollends. Als Finnland 2023 und Schweden 2024 noch von der militärischen Neutralität zum Kriegsbündnis NATO wechselten, wurde Russland von der NATO am Ostzipfel der Ostsee eingeklemmt.

Die sogenannte Suwalki-Lücke
Zwischen der russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee und Belarus liegt die «Suwalki-Lücke» oder der «Suwalki-Korridor»; das ist die in der Luftlinie etwa 65 km lange Grenze zwischen Polen und Litauen, die sich von Belarus bis zum russischen Ostseegebiet Kaliningrad erstreckt. Angeblich ist die NATO hier sehr verletzlich, eben weil die Breite dieser Verbindung zwischen den NATO- Staaten Polen und Litauen «nur» 65 km beträgt. Das ist übrigens mehr als die Länge des Kantons Zürich von Norden nach Süden. In Tat und Wahrheit ist hier umgekehrt in krasser Weise nicht die NATO, sondern Russland verletzlich, denn die einzige ein paar Meter breite Bahnlinie zwischen dem Hauptgebiet Russlands und Kaliningrad führt durch Belarus und Litauen und könnte somit von der NATO in Litauen mit einer Bombe oder Blockade problemlos unterbrochen werden. Das gleiche gilt für die Strassenverbindung zwischen dem russischen Kernland und der Exklave Kaliningrad, die ebenfalls durch Belarus und Litauen verläuft.

U-Boote vor Schweden
Das Recht der friedlichen Durchfahrt auch in Küstengebieten sichert seit dem 17. Jahrhundert, als es machtpolitisch international durchgesetzt wurde, die «Freiheit der Meere». Das heisst, die Freiheit der friedlichen Durchfahrt durch die offene See ist für alle gewährleistet. 1958 und 1982 wurde die freie und zügige Durchfahrt entlang der Küsten im UNO-Seerechtsabkommen genau umschrieben. Das betrifft auch Kriegsschiffe und U-Boote, solange sie sich keine Aggressionen zuschulden lassen kommen. Zwischen 1962 und 2014 wurden vor Schweden immer wieder U- Boote geortet. Einige Meldungen der schwedischen Marine deuteten auf sowjetische beziehungsweise russische U-Boote hin, andere Meldungen stellten sich als Falschmeldungen heraus, weil es gar keine U-Boote waren, wieder andere Medienmitteilungen wurden später revidiert, weil es sich um U-Boote anderer Staaten handelte. Böse Zungen behaupteten damals, die Schweden fänden unter jedem Kanalisationsschachtdeckel ein U-Boot. So oder so führten diese vermeintlichen oder echten Ortungen sowjetischer beziehungsweise russischer U-Boote, die entweder nur durchfuhren oder sich mit dem international durchaus üblichen Ausspionieren oder Kartografieren der Küste beschäftigten, zu einer gewollten Verängstigung der schwedischen Bevölkerung und dienten als einer von verschiedenen Propagandamosaiksteinen der von langer Hand vorbereiteten NATO-Beitrittskampagne des vormals militärisch neutralen Landes.

Die russische «Schattenflotte»
«Schattenflotte» – das tönt bedrohlich, es klingt so, als ob marode Schiffe im Schatten der Nacht bei Neumond illegale Aktionen durchführen würden. Gemeint ist, dass fremde Schiffe sanktionierte Waren transportierten. Nun muss aber wieder einmal darauf hingewiesen werden, dass sich nur gut ein Fünftel aller Staaten an den notabene völkerrechtswidrigen US- und EU-Sanktionen gegen Russland beteiligt; für alle anderen Staaten ist der Handel mit Russland völlig legal, z.B. von St. Petersburg oder Kaliningrad aus. «Schattenflotte» suggeriert im Weiteren, dass die Schiffe nicht im Eigentum Russlands stünden und in schlechtem Zustand seien. Auch das ist einseitige Propaganda – in Wirklichkeit fahren weltweit 77 Prozent aller Schiffe unter fremder Flagge; Panama, Liberia, die Bahamas, Antigua und Barbados sind die Staaten, in denen die meisten Schiffe registriert sind. Von der gesamten deutschen Handelsflotte fahren sogar 92 Prozent einfach deshalb nicht unter deutscher Flagge, weil es anders billiger ist.

NATO-Staaten kapern Handelsschiffe
Vermehrt kapern NATO-Staaten Handelsschiffe, die in der Ostsee nach oder von Russland aus unterwegs sind. Bei diesen Aktionen zeigen vor allem Estland und Finnland, aber auch Dänemark und Schweden besonderen Eifer. Dabei werden diese Schiffe von der Küstenwache des jeweiligen Staates gezwungen, abzudrehen und im Hafen des kapernden Staates zu landen, wo sie oft mehrere Tage lang festgehalten und untersucht werden. Es handelt sich hier meistens nicht um havarierte Schiffe; somit fehlt jede Rechtsgrundlage für die erzwungene Abkehr von der direkten Route der Handelsschiffe, das heisst, das Kapern und Entern steht im Widerspruch zum Völker- und zum Seerecht und ist kriminell – ein Akt der Meerespiraterie. Das gilt auch, wenn die Schiffe in der 12-Meilen-Zone entlang der Küsten unterwegs sind, in der sie das Recht auf unbehinderte Durchfahrt haben. Der kürzeste Abstand zwischen Finnland und Estland beträgt übrigens nur 55 km – die Strecke wurde von einem estnischen Sportler in 19 Stunden durchschwommen. Sogar in den wenigen Fällen, als Schiffe angeblich oder wirklich, absichtlich oder unabsichtlich in der seichten Ostsee mit Ankern Unterwasser-Datenkabel beschädigt haben sollen, ist das Kapern und Abschleppen unverhältnismässig, solange nicht nachgewiesen ist, dass der Kapitän des Schiffes in böser Absicht gehandelt hat. Für solche Fälle haben die Schiffe eine Versicherung. Ein bekannter Fall ist das chinesische Schiff Yi Peng 3, das vier Wochen lang im Kattegat, der Meeresenge zwischen Dänemark und Schweden festgehalten wurde, obschon es in internationalen Gewässern und nicht in der 12-Meilen-Zone unterwegs war. Schäden an den meistens mehrfach verlegten Unterwasser-Datenkabeln sind ohnehin sehr häufig, jedoch viel leichter reparierbar als Schäden an einer Pipeline wie beispielsweise Nord Stream 2, die eindeutig mit voller Absicht und mit grosser Gewalt zerstört worden ist, ohne dass es bisher auch nur zu einer ernsthaften Untersuchung geschweige denn zu einer Anklage gegen die Terroristen gekommen wäre (wenn Russland der Täter gewesen wäre, wäre es vom Westen schon längst verurteilt worden).
Ein anderer, dokumentierter Fall war das unter gabunischer Flagge segelnde Tankschiff Jaguar, das von Indien kommend Richtung Petersburg unterwegs war und in internationalen Gewässern, also ausserhalb der 12-Meilen-Zone, zuerst von einem estnischen Boot gerammt und dann von Flugzeugen und Militärhelikoptern bedroht wurde, bis ihm ein russisches Militärflugzeug zu Hilfe kam und es seine geplante Route fortsetzen konnte. Deutschland seinerseits schleppte den Tanker Eventin, der manövrierfähig war, sich jedoch ebenfalls in internationalen Gewässern befand, nach Rügen und konfiszierte ihn. Solche und ähnliche Fälle häufen sich. Russland blockierte und kontrollierte den griechischen, unter liberianischer Flagge segelnden Öltanker Green Admire einige Tage vor seiner Insel Hogland zwischen Estland und Finnland, um eine Busse einzutreiben. Kontrollen allein sind jedoch gemäss internationalem Recht in der 12-Seemeilen-Zone zulässig. Das wiederholte Kapern der Handelsschiffe ist eine reine Machtdemonstration und eine Provokation, ein weiterer Mosaikstein in der Eskalationsstrategie der NATO, die damit das Recht des Stärkeren durchsetzen will. Mindestens sechs Tankschiffe, die russisches Öl transportierten, wurden darüber hinaus in der ersten Jahreshälfte 2025 von Gegnern Russlands absichtlich beschädigt, mutmasslich mit Haftminen.

Aufrüstung und Militärmanöver
Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind Musterschüler der NATO. Dazu passt auch, dass diese Staaten sowie Finnland aus dem Vertrag über Landminen (Anti-Personenminen) ausgetreten sind. Lettland hat das NATO-Ziel, fünf Prozent seines Bruttoinlandproduktes für das Militär zu verschwenden, bereits erreicht, Litauen und Polen fast. Lettland ehrt immer wieder SS-Veteranen. Deutschland schickt Soldaten, unter anderem eine Panzerbrigade, nach Litauen, einen Teil davon nach Nemenčinė; sie werden zwei Kilometer von dem Ort stationiert, in dem die Nazis alle Juden des Dorfes ermordet hatten (die Nazis töteten 1941 in Litauen in kürzester Zeit 100 000 jüdische Menschen). Seit 2017 sind deutsche Soldaten in Litauen stationiert, sie errichteten inzwischen einen ersten dauerhaften deutschen Militärstützpunkt im Ausland – in einem Gebiet, in dem Deutschland einst seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion führte. Jedes Jahr findet ein Manöver der NATO in der Ostsee statt, seit 1971. Damals schickten die USA den Flugzeugträger Intrepid und drei Zerstörer in die Ostsee; die drei Schiffe näherten sich der sowjetischen Küste bis auf 36 Kilometer. Ein Jahr später begannen die jährlichen Manöver, heute BALTOPS genannt. 2025 waren 17 NATO-Mitgliedstaaten dabei, eingeladen nach wie vor vom Kommandanten der 6. US-Flotte und US- Marinebefehlshaber Europa/Afrika. Dieses Jahr nahmen 9 000 Soldaten teil, letzte Jahr waren es 7 000. Über 50 Militärschiffe, ferner 25 Flugzeuge und Helikopter wurden eingesetzt. 2025 fand auch das bedeutende Manöver Griffin Lightning 2025 im Baltikum (hauptsächlich in Litauen) und in Polen mit rund 8 000 Soldaten und 1 000 Fahrzeugen statt. Ende August bis Mitte September 2025 läuft das Manöver Quadriga mit 8 000 deutschen Soldaten in Deutschland, Litauen, Finnland und auf der Ostsee. Wir sehen, dass die NATO, wie immer seit ihren Anfängen, auf Aufrüstung und nicht auf Diplomatie setzt. Bertolt Brecht sagte 1953: «Werden wir Krieg haben? Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben.» Es liegt an allen Friedensbewegten, die Weichen richtig zu stellen, und den «Meistern der Kriege» (Bob Dylan) das Handwerk zu legen.