«Es gibt gute linke Argumente für die Neutralität»

Die Schweizerische Friedensbewegung SFB unterstützt aktiv den linken Aufruf für die Neutralitätsinitiative. Deshalb haben wir Professor Pascal Lottaz, derzeit Assistenzprofessor am Waseda Institute for Advanced Studies (WIAS) in Tokio und Initiant des linken Aufrufs, zu diesem Thema befragt.

Von Stefano Araújo

Woher kommt der Aufruf der Linken und Grünen zur Neutralitätsinitiative?
Prof. Pascal Lottaz: Der Aufruf war eine Idee von Herrn (Emr. Prof.) Wolf Linder, Frau Verena Tobler und mir zur Unterstützung der Neutralitätsinitiative. Wir hatten schlicht die Nase voll von diesem Narrativ, dass die Initiative «rechts» und eine «Blocher-Initiative» sei. Wir fanden diesen Spin unserer Medien falsch, denn einerseits waren durchaus auch linke Köpfe im Initiativkomitee, zum Beispiel Herr Dr. René Roca [Roca ist promovierter Historiker und Gründer des Forschungsinstituts direkte Demokratie, Anm. d. Red.], und andererseits gibt es durchaus gute linke Argumente, die für die Initiative sprechen. Darum haben wir diese Gedanken niedergeschrieben und um Unterstützung aus dem linken Lager gesucht. Schlussendlich spielt es zwar keine Rolle, ob diese Initiative «links» oder «rechts» ist – es geht schlicht um eine gesunde Aussenpolitik – aber für die Unterschriftensammlung und die Abstimmung ist die Wahrnehmung der politischen Herkunft des Anliegens nicht unwichtig. Wir wollten unseren Beitrag dazu leisten, in der nationalen Debatte die Initiative richtig einzuordnen. Es gibt sowohl rechte wie auch linke Argumente, die Initiative zu unterstützen, und wir wollen die Debatte eben nicht nur den Rechten überlassen, sondern konstruktiv von links für das Gelingen der Initiative beitragen.

Wie definieren Sie die Schweizer Neutralität und warum ist es wichtig, sie auch aus linker Sicht zu verteidigen?
Die Schweizer Neutralität kann ich nicht definieren, dieses Privileg obliegt unserer Regierung und die hat über die letzten 200 Jahre hinweg die Schweizer Neutralität immer wieder anders definiert und interpretiert. In ganz groben Zügen: Die Definition zur Zeit des Wiener Kongresses war die einer permanenten und bewaffneten Neutralität im Dienste Europas, um den Alpenraum weder den Franzosen noch den Österreichern als Einfallstor gegenüber der anderen Macht zur Verfügung zu stellen. Zur Zeit der Weltkriege ging es dem Bundesrat vor allem darum, über unsere Neutralität die innere und äussere Kohäsion der Schweiz zu wahren, und im Kalten Krieg war mehr oder weniger die sogenannten Bindschedler-Doktrin die inoffizielle Definition der Schweizer Neutralität, welche besagte, dass die Schweiz keinen politischen Gruppierungen beitritt, die nicht universellen Charakter haben und uns im Falle eines Krieges auf die eine oder andere Seite zum Mitmachen verpflichten könnten (offiziell oder über Sachzwänge). 1993 dann hat der Bundesrat ein neues Papier zur Neutralität entwickelt, das bis heute Gültigkeit hat und unsere Neutralität mit den Erfordernissen der UNO-Realitäten sowie der Welt nach dem Kalten Krieg kompatibel machte, ohne die Kernprämissen der Unparteilichkeit und der militärischen Abstinenz über Bord zu werfen.
Dieser harte Kern aber wurde in den letzten Jahren durch neue Ansätze der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik aufgeweicht, die alle mehr Kooperation mit der NATO und der EU vorsehen, und zwar so weit, dass ich persönlich die neue Schweizer Aussenpolitik nicht mehr für neutralitätskompatibel halte. Deshalb empfinde ich die Neutralitätsinitiative für wichtig, damit wir eine harte Definition der Neutralität zum ersten Mal in unserer Verfassung verankern und so dem Bundesrat vorgeben, welche Vision der Neutralität er umzusetzen hat – obwohl die Neutralität selbst kein Zweck in sich ist, sondern Mittel zum Zweck. Sie ist aber ein gutes Werkzeug, das wir meiner Meinung nach nicht aufgeben sollten, sondern weiterhin den Zeiten anpassend verwenden sollten. Daher gehört es auch in die Verfassung und darin definiert, damit klar ist, dass wir dieses Werkzeug genug schätzen, um es in diesem Grundpapier unseres Staates in seinen Grundzügen zu umreissen. Die Detailausarbeitung würde dann immer noch beim Bundesrat und der Bundesversammlung liegen. Aus linker Perspektive finde ich es wichtig, dass wir den ursprünglichen Gedanken der Neutralität hervorheben, dass diese Aussenpolitik eben nicht egoistisch oder isolationistisch ist, sondern im Dienste Europas (und der ganzen Welt) fungieren soll. Die Neutralität ist nicht gegen diesen oder jenen Staat zu verstehen, sondern für alle und jeden, der mit uns arbeiten will. Wir engagieren uns für das Gemeinwohl der ganzen Staatengesellschaft und lassen uns nicht von der einen oder anderen Interessengruppierung in deren Konflikte oder gar deren Kriegslogik einspannen. Die Neutralität ist an sich zwar nicht ein pazifistisches Prinzip (wir würden ja über die Initiative auch die bewaffnete Neutralität festschreiben), aber sie beinhaltet pazifistische Elemente, nämlich die Zurückweisung der kollektiven Selbstverteidigung, und das ist ein sehr linkes Ansinnen, dass wir Kriege eben nicht befeuern, dass wir sie sie über den Entzug von Kooperation zur Führung von Krieg (Export von Waffen, Senden von Truppen etc.) nicht noch schlimmer machen, als sie sowieso schon sind. Den Vorwurf, dass die Neutralität ja nur dem Geschäftemachen dient und daher von Linken zu verwerfen sei, dem stimme ich nicht zu. Denn ja, die Neutralität erlaubt das Geschäftemachen, aber das ist erstens die Kehrseite des Prinzips, dass wir Freunde mit allen sind und unsere Dienste auch allen anbieten, die danach fragen. Und zweitens müssten wir generell aufhören, mit anderen Staaten Geschäfte zu betreiben, wenn wir unsere Wirtschaftspolitik nur noch nach moralischen Grundsätzen ausrichten würden.

Sind Sie bei der Sammlung von Unterschriften für diesen Aufruf auf irgendwelche Hindernisse oder Ablehnungen gestossen?
Da ich in Japan lebe und arbeite, bin ich selbst nur an einem einzigen Tag in den Ferien in der Schweiz dazu gekommen, tatsächlich auf der Strasse Unterschriften sammeln zu gehen. Da war ich einen guten Morgen lang in Bern. Dabei sind sehr gute Gespräch zu Stande gekommen. Natürlich gab es auch Ablehnung, speziell von Leuten, die argumentieren, dass wir als Staat eine moralische Pflicht haben, «die Bösen» zu sanktionieren, und wir daher den alten Hut der Neutralität, wenn überhaupt, dann nur in ganz restriktiven Zügen weiterverfolgen sollten. Aber das ist ja das gute Recht unserer MitbürgerInnen, so zu denken und zu argumentieren und um diese Diskussion auf nationaler Ebene zu führen, wollen wir ja auch die Initiative haben. Daher war das alles okay für mich, man muss auch in dieser Diskussion nicht einer Meinung sein. Es gab Ablehnung, aber keine Gehässigkeiten.

Was halten Sie von dem ständigen Druck auf die Schweiz, weiter mit der NATO zusammenzuarbeiten und eine Konfliktpartei zu unterstützen, wie im Fall der Ukraine?
Das halte ich für problematisch. Es ist zwar absolut normal, dass in Kriegszeiten beide Kriegsparteien Druck auf Neutrale ausüben, sich mehr bei ihnen und weniger für die andere Seite einzusetzen. Und dann ist es eben gerade die Aufgabe einer gekonnten Neutralitätspolitik, diesen Forderungen nur dort nachzugeben, wo unbedingt nötig, und auf der anderen Seite wieder irgendwie zu kompensieren. Im Moment tut der Bundesrat meiner Meinung nach aber viel zu viel, um sich in das «westliche Wertebündnis» zu integrieren und ganz speziell die Kooperation mit der NATO auf ein neues Level zu hieven, das ich nicht für gut halte. Die neue Aussenpolitik der Schweiz scheint zu sein, einen NATO-Beitritt zwar nicht anzustreben, aber ihn vorzubereiten. Dazu muss man sich nur die neusten Papiere des Bundesrats durchlesen. Die reden sogar davon, dass die Schweiz sich von der NATO «zertifizieren» lassen sollte, um sicher zu sein, dass wir «day zero connectivity» haben, also vom ersten Tag an kompatibel sind, sobald der Beitritt dann kommt. Es ist schon fast gruselig, dass so was in einem bundesrätlichen Bericht drinsteht, während gleichzeitig gesagt wird, wir würden die Neutralität natürlich beibehalten. Wenn man einen NATO-Beitritt nicht will, dann sollte man ihn auch nicht vorbereiten. Wir bereiten ja auch nicht Kooperation mit den GUS-Staaten vor oder Kooperation mit der chinesischen Armee, weil wir nicht vorhaben, bei denen jemals in einem Club mitzumachen.

Und was ist mit denjenigen Linken, die unsere Neutralität aufheben wollen, indem sie Waffen an Konfliktparteien schicken oder Sanktionen Dritter befolgen?
Na ja, diese Leute gibt es, mehr als genug. Mit denen bin ich schlicht nicht einverstanden und werde mich auch gerne mit ihnen inhaltlich austauschen. Es gibt sehr gute und sehr respektable linke Denker, die mit meinen Ansichten ganz und gar nicht einverstanden sind, und diese Debatte, bin ich überzeugt, brauchen wir. Etwas, was mir auffällt, ist, dass Leute aus dem linken Lager, die die Neutralität am liebsten aufgeben würden, respektive sie für verwerflich halten, dies oft aus einer sehr moralischen Perspektive heraus tun und auch moralisch argumentieren. Ich gehöre zu den Leuten, die dafür plädieren, dass wir aus realpolitischer Perspektive heraus denken und agieren und uns vor allem nicht Sand in die Augen streuen lassen sollten, was die «Gerechtigkeit» von Kriegen und internationalen Konflikten angeht. Es gibt keine gerechten Kriege, jeder Krieg ist schlecht, und wir sollten diese weder befeuern noch durch die Verhängung von Sanktionen eine Seite der anderen vorziehen.

Wie beurteilen Sie als Beobachter und Experte für internationale Politik die aktuelle geopolitische Lage in der Welt? Welches sind die grössten Risiken für die Menschheit?
Ich müsste jetzt sehr viel schreiben, um dieser Frage gerecht zu werden, aber lassen Sie mich das kurz halten: die aktuelle Sicherheitslage ist so gefährlich, wie seit der Kubakrise nicht mehr. Der Krieg in der Ukraine ist so schlimm und so gefährlich, dass er noch immer zu einem Flächenbrand für ganz Europa werden könnte. Wenn wir Europäer nicht endlich diesen Grossmachtkonflikt deeskalieren und eine Einigung mit Russland finden über die gemeinsame eurasische Sicherheitsstruktur, dann laufen wir Gefahr, in einen fünften generellen europäischen Krieg in 400 Jahren hineinzulaufen, der wieder Millionen, wenn nicht Dutzenden von Millionen Menschen das Leben kosten wird. Und obwohl Russland seinen Teil zu diesem Debakel geleistet hat (speziell mit dem illegalen Einmarsch in der Ukraine), muss ich doch sagen, dass ich die Hauptverantwortung, für die sich seit 15 Jahren drehende Konfliktspirale beim Westen und vor allem auch der NATO sehe. Die Neutralität der Ukraine, über die diese ganze Tragödie hätte verhindert werden können, wurde schlussendlich nicht von Russland blockiert – Russland hat diese Lösung aktiv gesucht – sondern von den Europäern und Amerikanern, zuletzt im April 2022, als sie fast den Krieg beendet hätte, was wir jetzt sogar von amerikanischer Seite her wissen. Das Problem von uns Europäern (und ich meine damit jetzt auch die Russen) ist immer dasselbe. Alle wollen Frieden, aber nur ihren Frieden, so wie sie ihn sich vorstellen, und dafür sind sie bereit in den Krieg zu ziehen. Oder wie Herr Stoltenberg so schrecklich sagte: «Waffen sind in der Tat der Weg zum Frieden.» Toll. Bei solchen absoluten Dummheiten sollten wir Schweizer einfach nicht mitmachen.

Was möchten Sie abschliessend noch sagen, um die progressiven Schweizerinnen und Schweizer zu überzeugen, Ihren Aufruf zu unterzeichnen?
Bitte lesen Sie den Aufruf einmal im Original durch und bilden Sie sich eine Meinung, ob sie diese Argumente nachvollziehen und bejahen können. Wenn ja, bitte unterschreiben Sie online. Wenn nein, schreiben Sie mir bitte eine Mail, warum nicht, ich werde diese gerne auf meiner Homepage veröffentlichen mit «Pro und Kontra» Meinungen zur Neutralitätsinitiative. Wir sollten diese Diskussion wirklich anständig auf nationaler Ebene führen. Sie wird unser aller Zukunft in der Schweiz auf Jahrzehnte hinaus bestimmen. Ich möchte schlicht den Kurs, den die Schweiz in ihren Vorbereitungen für einen NATO-Beitritt eingeschlagen hat, abändern. Ich möchte nicht, dass ich jemals von meinen Freunden hören muss, dass ihre Kinder jetzt in einem NATO-Bataillon irgendwo im Ausland kämpfen. Das wäre für mich ein schrecklicher Tag.

Mehr Infos und Möglichkeit zur Mitunterzeichnung: www.neutralitystudies.com/ja-zurneutralitaet