
Anfang Mai fand in Jerusalem ein grosser Friedensgipfel statt, an dem verschiedene jüdische und arabische Friedens- und Gemeinschaftsinitiativen zusammenkamen und sich vereint gegen Krieg und Völkermord aussprachen. Die Mitorganisatorin Nivine Sandouka, eine palästinensische Menschenrechtsaktivistin, berichtet aus ihrem Leben und vom Friedensprozess in Palästina/Israel.
Von Nivine Sandouka
Ich wurde während des ersten Aufstands in den 1980er Jahren geboren. Mein Grossvater war der Mukthar, also die Person, die die Probleme in unserer Gemeinschaft löste. Damals war es für Frauen schwierig, zu studieren und beispielsweise Ärztin oder Lehrerin zu werden und doch waren meine Mutter, meine Tanten und alle Frauen in meinem Umfeld gebildet und sehr engagiert. Eine für übliche Verhältnisse sehr gebildete Familie also. Doch ich habe keine glücklichen Erinnerungen an meine Kindheit. Ich erinnere mich noch daran, wie israelische Soldaten unsere Schule stürmten und wir kleinen Mädchen uns alle unter unseren Tischen versteckten. Selbst das Zeichnen der palästinensischen Flagge war verboten, also versteckten wir sie zwischen den Seiten unserer Schulbücher. Eine Situation, die der heutigen sehr ähnlich ist: Gewalt überall.
Dann passierte etwas Wichtiges: das Oslo-Abkommen, der erste Hoffnungsschimmer für meine Generation. Es war ein unvergesslicher Moment für jeden Palästinenser und Israeli, der miterlebte, wie sich die Führer der beiden verfeindeten Seiten trafen, sich die Hände reichten, die Waffen niederlegten und das Friedensabkommen unterzeichneten. Dieselben Strassen, auf denen wir gekämpft hatten, waren nun voller Menschen, die sich freuten, Unterhaltungen führten, Süssigkeiten, Lebensmittel und Blumen austauschten – sogar mit den Israelis. Der Frieden war die Hauptnachricht in den israelischen Fernsehkanälen und in dieser Zeit beschloss ich, Hebräisch zu lernen. Es gab Besuche in Eilat und Tel Aviv, Orte, die normalerweise wegen des Konflikts nicht zugänglich waren. Sogar das WestjordanFriedensgipfel der Völker in Jerusalem «Es gibt einen anderen Weg» land war plötzlich ein sicherer Ort geworden. Ramallah, Bethlehem, dann Nablus und Jericho – alles war anders, sogar die palästinensische Polizei. Das war eine Bestätigung unserer Existenz und eine Anerkennung unserer Identität.
Checkpoints überall
Das war ein entscheidender Moment, der meine Persönlichkeit und meine heutige Arbeit massgeblich geprägt hat. Leider waren die Vereinbarungen, wie sich zeigte, nicht von Dauer. Bald darauf kam es wieder zu Selbstmordattentaten, die in der Ermordung von Yitzhak Rabin durch israelische nationalistische Extremisten gipfelten – dieselben Leute, die heute an der Macht sind. Dann kam der Bau der Mauer, was Apartheid und die Beschlagnahme von noch mehr Land bedeutete, sowie die Ausweitung der Siedlungen. Die zweite Intifada war in vollem Gange. Zu dieser Zeit studierte ich an der Universität Bethlehem. Für die gleiche Strecke, für die ich normalerweise 30 Minuten benötigte, brauchte ich plötzlich zwei oder drei Stunden, denn überall gab es Checkpoints und israelische Soldaten überprüften jedes einzelne Auto. Sie verlangten einen Ausweis, bevor sie die Einfahrt in die Stadt erlaubten. Ich erinnere mich besonders an einen von ihnen, vielleicht einen General, der ein Foto eines jungen Mannes um den Hals trug. Auf meinen fragenden Blick hin sagte er: «Er ist mein Sohn, der bei einem Selbstmordattentat ums Leben gekommen ist», während seine Waffe auf mich gerichtet war.
In diesem Moment wurde mir schlagartig bewusst: Wir müssen einen Weg finden, diese Spirale der Gewalt zu durchbrechen. In den folgenden Jahren arbeitete ich in verschiedenen Entwicklungsorganisationen, vor allem im Westjordanland und in Gaza. Mit der Zeit kam ich zu dem Entschluss, dass es selbst dann nicht besser wird, wenn man die besten Voraussetzungen für das Zusammenleben bereitstellt, den bestmöglichen Weg für die Zukunft aufzeigt und all seine Zeit, Energie und Dollars investiert, damit die palästinensische Gesellschaft einen Schritt nach vorne machen kann. All das würde nicht funktionieren, weil die Besatzung mit ihren Checkpoints an jeder Ecke jeden Schritt nach vorne blockiert. Egal, wie sehr man sich bemüht, die politische Situation zu verbessern, sie wird dieselbe bleiben. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, muss die Besatzung ein Ende haben und das geht nur, wenn sich auf politischer Ebene etwas ändert.
Bedürfnis nach Sicherheit
Ich glaube, es war 2015, als ich beschloss, in die Politik zu gehen, obwohl ich eine Frau bin. In diesem Teil der Welt wird es nicht gut aufgenommen, wenn sich Frauen in der Politik engagieren. Denn um sich Gehör zu verschaffen, muss man viel Zeit ausser Haus verbringen, was bedeutet, dass man die traditionelle Rolle der Frau infrage stellt. Eine weitere Hürde ist, dass ich aus Jerusalem komme. Das bedeutet, dass ich zwar einen Wohnsitz in Israel habe, aber nicht die Staatsbürgerschaft. Als palästinensische politische Aktivistin riskiere ich, meinen Wohnsitz zu verlieren oder ins Gefängnis zu kommen. Der einzige Bereich, in dem ich etwas bewirken kann, ist die Zivilgesellschaft. Indem ich mich dem «Friedenslager» anschliesse, kann ich mich mit der «anderen Seite» auseinandersetzen und mir eine gemeinsame Zukunft unserer Völker vorstellen. Auf diese Weise konnte ich die Israelis besser verstehen, deren Bestrebungen oft unseren eigenen Hoffnungen als Palästinenser gleichen: das Bedürfnis nach Sicherheit auf beiden Seiten des Konflikts sowie nach Anerkennung und Selbstbestimmung für alle.
Ich habe bei verschiedenen Organisationen gearbeitet, bis ich vor drei Jahren in den Vorstand der Alliance for Middle East Peace (ALLMEP) eintrat, wo ich jetzt Regionaldirektorin bin. ALLMEP ist ein Bündnis von 170 Organisationen, die für den Ausdruck der Zivilgesellschaft stehen und sich dem Ziel der «Friedenskonsolidierung» verschrieben haben. Sie mögen unterschiedliche Ansätze und Bekanntheit haben – einige arbeiten in der Lobbyarbeit, andere an der Basis, viele mit gemeinsamen israelisch-palästinensischen Verbindungen – aber sie sind alle mit dem gleichen Ziel vereint. Es ermöglicht uns, die Stimmen, Praktiken und Errungenschaften all dieser Organisationen, die so oft ignoriert werden, zu verstärken. Und ich bin der festen Überzeugung, dass all dies die grösstmögliche Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft verdient.
Schritte zum Frieden
Seit dem 7. Oktober sprechen wir ununterbrochen mit den Medien, um einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln zu fordern, zum Schutz der Zivilisten aufzurufen und die internationale Gemeinschaft zu bitten, einen Prozess zu fördern, der zu einer politischen Lösung beitragen kann. Eine Lösung, zu der unsere Führer offensichtlich nicht in der Lage sind, obwohl es so viele hervorragende Vorschläge aus der Zivilgesellschaft gibt: von der Kampagne «Land für alle» über das konföderale Modell bis hin zum «klassischen» Zwei-Staaten-Vorschlag. All diese Vorschläge erfordern die Einbeziehung und Beteiligung der Zivilgesellschaft, und genau das versuchen wir zu verstärken. Wir hoffen auf Erfolge in der Zukunft. Auf jeden Fall brauchen wir mehr konkrete Massnahmen der internationalen Gemeinschaft in diese Richtung. Denken Sie nur an das Geld, das in all die Waffen, Kriegsflugzeuge und Bomben investiert wurde, die auf Gaza abgeworfen wurden – verglichen mit dem Geld, das in Projekte der Entwicklung und Versöhnung hätte investiert werden können. Frieden ist immer günstiger als Krieg.
All diese Themen werden während des zweitägigen «Friedensgipfels der Völker» am 8. und 9. Mai in Jerusalem diskutiert. Diese Veranstaltung stellt eine Weiterentwicklung des vorangegangenen Gipfels vom 1. Juli in Tel Aviv dar, der mich als Frau und Palästinenserin mit Hoffnung erfüllt hat. Es war ein emotionaler Moment der kollektiven Heilung für viele von uns – Israelis und Palästinenser –, in dem wir uns nicht nur mit unseren gemeinsamen Erzählungen auseinandersetzten, sondern auch alle möglichen mutigen Schritte in Richtung Frieden vorstellen konnten. Es war ein prächtiges Ereignis, reichhaltig und bedeutsam durch die Anwesenheit von Schriftstellern, Politikern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Frauen und Männern jeden Alters, Arabern, Israelis und Palästinensern – so viele von uns waren dabei!
Für eine bessere Zukunft
Die Hauptbotschaft, die sich vor allem, aber nicht nur an die israelische Öffentlichkeit richtet, lautet: Es gibt einen anderen Weg, und es ist Zeit. Es ist an der Zeit, den Krieg zu beenden – nicht nur, indem wir die Geiseln nach Hause bringen, sondern auch, indem wir uns für einen anderen politischen Horizont und ernsthafte, langfristige Verhandlungen öffnen. Denn wir alle verdienen eine bessere Zukunft, als wir sie derzeit haben, in der wir alle traumatisiert und als menschliche Wesen zutiefst verwundet sind. Es wird also ein wirklich aussergewöhnliches Gipfeltreffen sein, bei dem die verschiedenen Vorschläge aus der Zivilgesellschaft auf politischer Ebene und vor einem möglichst breiten Publikum aus Israelis und Palästinensern erörtert werden. Als Palästinenser und Israelis werden wir zeigen, dass wir auf diesem Weg zum Frieden vereint sein können.
Quelle: Pressenza, Kürzung: UW