
Der Schweizerische Friedensrat lud zu einer Tagung zur Neutralitätspolitik ein und diskutierte über «eine völkerrechtsorientierte Friedens- und Sicherheitspolitik der Zukunft». Leider bot die Tagung keinen Raum für eine echte Debatte. Ein kritischer Kommentar von Timeo Antognini.
Am 18. Mai 2025 lud der Schweizerische Friedensrat zu einer Tagung zur Neutralitätspolitik im Bernischen Historischen Museum ein. Die Konferenz stellte folgende Fragen zur Diskussion: «Angesichts der fragilen Weltlage und hinsichtlich der Neutralitätsinitiative steht die Schweiz vor einer Weichenstellung. Wohin geht es mit der Neutralitätspolitik? Wie lässt sich eine völkerrechtsorientierte Friedens- und Sicherheitspolitik der Zukunft konturieren?»
Die Frage der Neutralität sollte in der organisierten Podiumsdiskussion «vielstimmig» diskutiert werden. Die eingeladenen Expertinnen und Experten Franziska Roth (Ständerätin SP), Dr. Günther Bächler, Prof. Dr. Odile Ammann und Prof. Dr. Laurent Goetschel boten jedoch letztlich nur eine begrenzte Vielfalt. Während einige der Experten (insbesondere Franziska Roth und Günther Bächler) sogar die Abschaffung der Neutralität forderten, erwähnte Laurent Goetschel auch positive Aspekte der Schweizer Neutralität. Abgesehen von diesen begrenzten Unterschieden sprachen sich alle Experten gegen die von einem Teil der Friedensbewegung unterstützte Neutralitätsinitiative aus. Schmerzlich vermisst wurde die Position der blockfreien Friedensbewegung, die als Stimme des Globalen Südens und der blockfreien Bewegung die vom Westen verhängten Sanktionen äusserst kritisch sieht. Laurent Goetschel wies in einer kurzen (aber sehr wichtigen) Stellungnahme auf die Skepsis des Globalen Südens und auf die Scheinheiligkeit des Westens beim Ukraine-Krieg hin, das Thema wurde aber nicht ausführlich diskutiert.
So wurde das Podium einmal mehr zu einer Diskussion weisser, westlicher Frauen und Männer, die sich als demokratische Vorbilder verstehen, die die bösen Autokraten im Osten und Süden bestrafen müssen. Nicht diskutiert wurde eine für den Globalen Süden offensichtliche Erkenntnis zu diesem Konflikt: Kriegsverbrechen zählen nur dann wirklich, wenn sie gegen weisse Europäer oder von Gegnern des westlichen Imperialismus begangen werden.
Franziska Roth verurteilte Russlands Verletzung des Völkerrechts und forderte mehr Solidarität mit der Ukraine. Um dagegen anzugehen, fordert sie eine stärkere Zusammenarbeit mit der NATO, einer Organisation, die ihrerseits für zahlreiche Völkerrechtsverstösse Verantwortlich ist. Gegen die NATO-Länder fordert die «pro-Nato-SPlerin» keine Sanktionen, trotz der unzähligen (Millionen?) zivilen Todesopfern in ihren Kriegen im Irak, in Afghanistan und weiteren Kriegen.
Die vom Friedensrat organisierte Veranstaltung war keine Werbung für Friedenspolitik, sondern für einen Neuen Kalten Krieg, der in Russland erneut das «Reich des Bösen» (Reagan) sieht.
Das Schlimmste daran war, dass das Publikum nicht einmal die Möglichkeit hatte, Fragen zu stellen oder Gegenargumente und Kommentare vorzubringen. Die Diskussion wurde zwar für die darauffolgenden Gesprächstische angekündigt, da waren aber einerseits ein Teil der Experten schon weg, und zudem konnte so nicht die Gesamtheit der Anwesenden alternative Meinungen hören.
Bei den Gesprächstischen war die Diskussion ebenfalls drastisch eingeschränkt. Eigentlich hätten mögliche Lösungsvorschläge durch die Teilnehmenden erarbeitet werden sollen. In meinem Fall (am Diskussionstisch zu Sanktionen und Wirtschaftspolitik mit Peter Hug und Markus Mugglin) kamen jedoch wiederum praktisch nur die Experten zu Wort.
Einerseits war ich schockiert, dass Peter Hug seine Analyse hauptsächlich auf die Arbeit von Anne Applebaum stützt. Letztere ist eine US-amerikanische Historikerin, die unter anderem die Invasion des Irak sowie weitere neokonservative Kriegsprojekte unterstützte. Sie ist für ihren starken Antikommunismus und Russlandfeindlichkeit bekannt. Als ich kritisierte, dass westliche Sanktionen (von den USA und der EU) oft willkürlich gegen Länder des Globalen Südens ergriffen werden, weil sie eine vom Westen unabhängige Politik verfolgen, wurde mir von Hug vorgeworfen, ich würde eine vereinfachte Analyse machen. Da die Zeit für das Gespräch so kurz war, hatte ich nicht einmal Zeit, um auf diesen Vorwurf richtig zu reagieren. Ich meinerseits finde Peter Hugs Analyse, wie er sie in seinem Artikel von April 2024 gemacht hat («Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken, aber wie?») ebenfalls extrem vereinfacht. Ganz im Stile des Kalten Krieges listet Hug die Bösen dieser Welt (natürlich Russland und China) auf, die der gute Westen (die Schweiz an der Seite der EU und der NATO) zu bekämpfen habe.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konferenz zu einer Art Diktat verkommen ist. Die vermeintlichen Experten konnten ihre Ansichten ohne nennenswerte Gegenstimmen verbreiten, und auch die Diskussionsrunden boten keine Gelegenheit für eine echte Debatte. Das Event war symptomatisch für die heutige Haltung von einigen Friedensorganisationen. Es geht nicht mehr um Frieden, Diplomatie und gewaltfreie Konfliktlösung, sondern nur noch darum, wie man Frieden durch Gewalt wiederherstellen kann (Reagan würde es «Peace through strength» nennen). Es war eine Tagung, bei der weisse Europäer erneut die Bedürfnisse und Positionen des Globalen Südens missachtet haben. Es war eine Tagung, bei der die «Pazifisten» um den Friedensrat zugegeben haben, dass sie jeden Pazifismus aufgegeben haben.
Timeo Antognini